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Ziel: Menschenleben retten

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Helena Lüer

Helena Lüer

Ich arbeite in der politischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen und bin Expertin für sexuelle und reproduktive Gesundheit im humanitären Kontext.

In meiner Arbeit in der politischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen konzentriere ich mich vor allem auf die Themenbereiche sexualisierte Gewalt und sexuelle und reproduktive Gesundheit. Für uns steht fest: Der Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit ist elementarer Bestandteil der medizinischen Erstversorgung und muss dementsprechend priorisiert werden – in unserer Arbeit und überall. Dazu gehört auch der Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch.  

Die Priorisierung von sexueller und reproduktiver Gesundheit bedeutet vor allem eines: die Reduzierung von Müttersterblichkeit* und damit die Rettung von Menschenleben. 99 Prozent der Fälle von Müttersterblichkeit kommen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen vor, also auch insbesondere in unseren Einsatzländern.  

Wir leisten daher in unseren Projekten Geburtshilfe, Schwangerschaftsvorsorge, stellen moderne Verhütungsmittel bereit, versorgen Überlebende von sexualisierter Gewalt und behandeln Krankheiten wie Gebärmutterhalskrebs. Eine umfassende medizinische Versorgung bedeutet für uns auch, den Zugang zu einem kostenfreien und sicheren Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen. 

Wie in Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche in vielen Ländern nach wie vor illegal oder zumindest stigmatisiert.  

Das verhindert allerdings keine Schwangerschaftsabbrüche, sondern führt vielmehr dazu, dass Schwangere andere, unsichere Wege finden, die Schwangerschaft zu beenden.  

Viele erleiden aufgrund der Komplikationen von unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen schwere Verletzungen oder sterben im schlimmsten Fall.  

Batteriesäure, Stricknadel, Glassplitter…  

2019 haben wir in mehr als 25.000 Fällen die Folgen von unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen behandelt. Unsere Patient*inne nahmen beispielsweise schädliche Medikamente oder gemischte Gifte aus Batteriesäuren, Phosphor oder Chlor ein. Andere führten Stöcke, Stricknadeln, metallische Haken oder Glassplitter in sich ein oder fügten ihrem Unterleib Schläge und Stöße zu.  

Die Konsequenzen sind Blutungen, Infektionen, Vergiftungen und Verletzungen an den Genitalien und Organen, die im schlimmsten Fall zum Tod führen. Jedes Jahr sterben rund 22.800 Menschen an den Komplikationen von unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen und sieben Millionen werden infolge eines unsachgemäß durchgeführten Schwangerschaftsabbruches in Krankenhäuser eingewiesen.  

Eine von drei Schwangerschaften weltweit endet in einem Abbruch. 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht unsichere Schwangerschaftsabbrüche als eine der fünf Hauptursachen von Müttersterblichkeit weltweit. [1]

Stigma und Tabu 

Ein Schwangerschaftsabbruch ist immer schwierig. Neben der schweren Entscheidung, vor der die Schwangere steht, ist der Abbruch oft mit Stigmen behaftet oder wird tabuisiert, wodurch wiederum Leid entsteht. – Wir können das aus der Erfahrung in unseren Projekten bestätigen. 

Daher schulen wir unsere Mitarbeiter*innen weltweit. In erster Linie geht es dabei um eine Sensibilisierung für die Konsequenzen, die eine Zurückweisung von hilfesuchenden Schwangeren, die die Schwangerschaft beenden möchten, haben kann. Hierbei geht es uns nicht um moralische, rechtliche oder religiöse Debatten, sondern vielmehr um Daten, Fakten und alltägliche Erfahrungen aus unseren Projekten, die belegen, warum sichere Schwangerschaftsabbrüche zur medizinischen Grundversorgung gehören sollten.  

Ein unsicherer Schwangerschaftsabbruch ist die einzige Hauptursache von Müttersterblichkeit, die fast vollständig vermeidbar wäre. 

Gut ist in diesem Fall nicht gut genug 

Wir arbeiten kontinuierlich daran, den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen in unseren Projekten zu verbessern. 2019 konnten wir 21.500 sichere Schwangerschaftsabbrüche in 30 Ländern ermöglichen und somit Leben retten und schweren Verletzungen vorbeugen.  

Doch auch wir als Organisation sind noch nicht am Ziel und arbeiten täglich daran, interne Barrieren und Stigma abzubauen. Zudem sind wir natürlich auf die Unterstützung angewiesen - von lokalen Partner*innen, Regierungen und anderen Organisationen.  

Von einer neuen Bundesregierung erwarten wir, dass sie sich den Zahlen und Fakten stellt und aktiv eine offene Debatte über die Folgen von unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen voranbringt, sowohl in Deutschland wie auch auf internationaler Ebene und mit Partner*innen.  

Zudem sollte sie aktiv den Zugang zu einer vollumfassenden Gesundheitsversorgung im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit fördern und gezielt Projekte unterstützen, die auch sichere Schwangerschaftsabbrüche anbieten.  

Dies darf nicht erst im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und Familienplanung geschehen, sondern muss insbesondere auch in humanitären Kontexten von Beginn an mitgedacht werden.  

Was wir brauchen, sind klare Positionen und eine deutliche Unterstützung von lebensrettenden Maßnahmen für von Krisen und bewaffneten Konflikten betroffene Menschen. Der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen gehört eindeutig dazu. 

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* In unserem Artikel benutzen wir die Bezeichnungen "Frau" und "Mutter" synonym für Menschen mit weiblichen Geschlechtsorganen. Dies können sowohl binäre als auch nicht-binäre Personen sein.

[1] WHO "Preventing Unsafe Abortions - Key Facts 2020"